Dass ich einmal direkt frisch nach dem Referendariat meine Rolle von der zu lehrenden Person in eine Lehrperson für Lehrkräfte einnehmen würde, habe ich mir vor unserem Entschluss des Sabbaticals so nicht unbedingt vorstellen können. Durch den Kontaktaufbau mit „Friends of Rwanda“ und die Präsentation unserer beiden Lebensläufe wurde den Organisatoren schnell klar, dass ich vor allem die Lehrer im pädagogischen und didaktischen Bereich sowie der methodischen Ausgestaltung ihrer Unterrichtssequenzen begleiten soll. Ich hatte in Deutschland aus den Erzählungen der Organisatoren nur eine leichte Vorahnung bekommen, wie der Unterricht in Ruanda im überwiegenden Teil abläuft und welche Rahmenbedingungen vor Ort gegeben sind. Ich wollte mich aber nicht mit einer voreingenommenen Brille zu sehr von der Wirklichkeit einschränken lassen und lies die Dinge auf mich vor Ort zukommen.
Direkt im ersten Treffen mit dem Schulleiter des RTC und dem stellvertretenden Rektor waren die Erwartungshaltungen an mich riesig. Ob ich nicht direkt am nächsten Tag einen vollumfänglichen Crash Kurs zu sämtlichen Methoden geben könnte, was mir direkt auf den ersten Blick auffällt, wo ich Verbesserungsvorschläge sehe – ich war zunächst ein wenig erschlagen und überrumpelt, direkt am Ankunftstag ohne eine Erfahrungssammlung vor Ort den Wünschen zu entsprechen. Ich wollte mir zunächst selbst ein Bild machen, wie sich der Unterrichtsalltag vor Ort gestaltet – sei es im Hinblick auf Unterrichtsgestaltung, strukturelle Rahmenbedingungen und die Offenheit und Arbeit der Lehrkräfte selbst. So einigten wir uns darauf, dass ich die erste Woche „nur“ hospitiere und den Lehrkräften über die Schulter schaue und erst in meiner zweiten Woche mit Workshops beginne.
Dieser Deal erwies sich als gewinnbringend für beide Seiten. Ich hatte die Möglichkeit, einen ersten Kontakt mit den Lehrkräften aufzubauen, Vertrauen zu schaffen und Ängste der „Beobachtung“ meinerseits abzubauen. Mir war es die ganze Zeit wichtig, mit den Lehrkräften auf Augenhöhe zu sprechen und gegenseitig Erfahrungen auszutauschen und sich mit Ideen und Überlegungen zu bereichern. Anfangs herrschte nach meinem Eindruck das Gefühl: „Da kommt jetzt eine aus Deutschland und klärt uns auf über Methodik und Didaktik und weiß alles besser über Pädagogik“. Diese Grundeinstellung räumte ich die erste Woche aus dem Weg und erzeugte dadurch Offenheit und Akzeptanz.
So begleitete ich verschiedene Lehrkräfte in unterschiedlichen Fächersparten – von technisch geprägten Unterrichtsstunden über Hydraulik bis hin zu Tourismusmanagement oder BWL. Mir wurde ein bunter Mix geboten, der sich neben den Fächern ebenso divers in der Ausgestaltung erwies und mich mit sehr unterschiedlichen Gefühlen erfüllt hat. Vorneweg – Ruanda unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von Deutschland – so auch in großen Teilen vom deutschen Schulsystem und darüber hinaus von der Art und Weise als Lehrkraft ausgebildet zu werden und zu unterrichten. Der überwiegende Großteil der Lehrkräfte kristallisierte sich als theoretisch in ihrem Fach fundierte Wissenskenner heraus, die von Methodik und Didaktik sowie dem pädagogischen Verständnis kaum eine Grundausbildung erhalten haben. Viele Lehrer sind nach ihrer fachlichen Ausbildung im jeweiligen Unterrichtsschwerpunkt direkt in die Lehramtsschiene gerutscht, ohne Wissen über die Vermittlung der jeweiligen Inhalte erhalten zu haben. So geben einige Lehrer auf Nachfrage zu, dass sie es eben auf ihre Art und Weise so unterrichten, weil sie es selbst damals in der Schule erlebt haben oder eben denken, dass es schon so passen wird. Zugleich signalisieren sie mir aber auch, dass sie nicht richtig wissen, ob das auch sinnvoll ist und sind zum Glück meistens für Anregungen und Ideenvorschläge meinerseits offen.
Insgesamt sind die Lehrkräfte aus ihrer eigenen Schulkarriere ein recht hierarchisches Lehrer-Schüler-Verhältnis gewohnt, welches sich im Unterrichtsklima immer noch widerspiegelt und mir in meiner pädagogischen Grundhaltung zu schaffen macht. Ein Dialog auf Augenhöhe und eine wertschätzende Lehrer-Schüler-Beziehung mit anregenden Diskussionen zwischen allen Beteiligten ist nur selten anzutreffen. Die Fehlerkultur ist aus meiner Sicht zum Großteil eher niederschmetternd als konstruktiv. Fehler werden entweder nicht zugelassen, überhört oder als persönliche Beleidigung gesehen. Dass aus Fehlern aber auch gelernt werden kann und ein positiver Lernzuwachs entstehen kann, versuche ich folglich in den weiteren Wochen den Lehrkräften immer wieder nahe zu legen.
Auch die Kommunikation ist ein Faktor, der mir in verschiedener Hinsicht immer wieder aufgefallen ist. Es fängt damit an, dass Schüler die Lehrkräfte nicht beim Namen nennen dürfen, sondern nur als „Teacher“ bezeichnen. Das mag kulturell noch zu verstehen sein, wie mir auf Nachfrage erklärt wurde. Im verbalen Aspekt ist der Sprechanteil der Lehrkräfte während der Unterrichtzeit enorm und gleicht erschreckender Weise viel zu oft einer deutschen universitären Vorlesung.
Während der Unterrichtshospitationen merke ich bei mir selbst, wie die Konzentration während der 80 Minuten nachlässt und beobachte das Schülerverhalten dafür umso besser. Es wird getuschelt, gemalt oder zum Teil geschlafen – was das betrifft, sehe ich zu Deutschland kaum Unterschiede. Die Konsequenzen des Schülerverhaltens werden doch deutlich härter bestraft – von die ganze Zeit im Unterricht anschließend in der Ecke zu stehen bis hin ein Lied vor der Klasse zu singen oder zum disziplinary office zu müssen. Was sich hinter diesen Toren versteckt, weiß ich leider bis heute nicht…
Ich ertappe mich, wie ich leichte Seminarlehrerzüge während meiner Hospitationen annehme. Ich notiere „Lehrerechos“, achte auf die Fragetechnik, die meist aus sehr engen W-Fragen bei den Lehrkräften besteht, beobachte den Einsatz von Lob (welches eher selten zu tragen kam) und runzle innerlich immer wieder mit der Stirn, wenn der Unterrichtseinstieg rein auf Lehrervortrag beruht und mehr Langeweile als Aufmerksamkeit hervorruft. Auch im nonverbalen Bereich sehe ich während meiner Hospitationen zum Teil große Verbesserungsmöglichkeiten hinsichtlich Blickkontakt halten oder einem kongruenten Einsatz von Mimik und Gestik. Körperhaltung und eine gezielte Positionierung im Raum bieten eine große Variation je nach besuchter Lehrkraft und sind zu gleich Ansatzpunkte für mich, um in meinen Workshops aufzugreifen.
Im Lehrerzimmer selbst darf ich den Lehrkräften bei den Korrekturen von Hausaufgaben über die Schulter schauen, die in meinen Augen sehr schnell von statten geht. Kein Wunder – wenn fehlerhafte Rechnungen mit einem Rotstift und Lineal einfach nur durchgestrichen werden und keine Verbesserung eingefügt wird, ist der Zeitaufwand auch deutlich geringer.
Genauso schnell wird versucht, die meist frontal gelehrten Inhalte an der Tafel festzuhalten. Es wird geschrieben und geschrieben und dabei meist zur Tafel gesprochen. Es hat einen Seltenheitswert, wenn die Schüler selbst Lösungsansätze an der Tafel notieren dürfen und zum eigenständigen Überlegen angeregt werden. Umso mehr zaubert es mir dann ein Lächeln ins Gesicht und gibt mir ein Stück weit die Hoffnung, dass das frontale Unterrichtssetting zumindest in kleinen Zügen von ein paar wenigen Lehrkräften aufgebrochen wird. Einmal erlebe ich sogar eine Gruppenarbeit und die eigenständige Präsentation von Schülerergebnissen, was mich innerlich jubeln lässt, auch wenn rein methodisch natürlich noch immer Ausbaubedarf wäre und mehr Klarheit und Struktur hinsichtlich Zeitmanagement und Gruppenrollen sowie der Ergebnissicherung wünschenswert wären. Ich merke, dass mein Anspruch an die Lehrer hier in Ruanda vor Ort nicht so hoch sein darf, wie er mir selbst während des Referendariats vermittelt wurde und ich mir für meine Unterrichtsplanungen gegeben habe.
So überlege ich mir in den Tagen während meiner Hospitation und dem anschließenden Wochenende sinnvolle und für die Lehrkräfte annehmbare Workshop Themen, die in meinen Augen gewinnbringend für die Lehrkräfte sind und unter den Rahmenbedingungen vor Ort auch umsetzbar sind. Hintergrund sind die im Verhältnis zu Deutschland sehr schwach ausgestatteten Klassenzimmer. Während wir uns in Deutschland schon lange von Overhead Projektoren zum Großteil verabschiedet haben und ein Beamer zur Grundausstattung gehört oder sogar interaktive Whiteboards immer mehr den Markt erobern, sind hier alle Klassenzimmer bis auf eines nur mit einer Tafel und Kreide ausgestattet. Viele Klassenzimmer haben entweder Einzeltische mit integriertem Schreibboard oder alte Schulbank Gestelle aus zusammenhängender Bank mit Tisch, an der meist zwei Schüler sitzen. Lange Kopierstaus kurz vor acht und genervte Lehrkräfte, die kiloweise Papier zum Teil in bunt für jeden einzelnen Schüler drucken, sind hier ein Fremdwort. An der ganzen Schule gibt es zwei kleine Drucker, deren Einsatz eine Seltenheit darstellt. Papier ist in Ruanda unglaublich teuer – für 25 dünne Seiten Flipchart Poster Papier für meine Workshops zahle ich umgerechnet 7 Euro und bin von diesen Preisen wirklich schockiert. Da wundert es mich kaum, dass selbst die Lehrkräfte ihre Notizen für den Unterricht und Tafeleinträge in klassischen Papierheften sammeln und an die Tafel mit Kreide übertragen.
Zurück also zu den Überlegungen der Workshop Themen. Die Bandbreite an Ideen, die mir in den Kopf kommen ist groß, die Praktikabilität der Umsetzung vor Ort schränkt sich jedoch unter den Voraussetzungen drastisch ein. Bin ich an meinem ersten Tag noch unverblühmt an die Überlegung zum Einsatz digitaler Tools im Unterricht herangegangen, habe ich schnell erfahren müssen, dass nicht einmal alle Lehrkräfte ein Smartphone besitzen und Schülern der Einsatz dieser in der Schule verboten ist.
So startete ich in meinem ersten Workshop mit dem wohl grundsätzlichsten Thema der Lehrerausbildung: Die Lehrerpersönlichkeit. Mir war es wichtig zu erfahren, welche Einstellung die Lehrkräfte bezüglich ihrer Profession aufzeigen und welches Bewusstsein sie ihrer Rolle zuschreiben. Wichtige Charakteristika haben wir dann gemeinsam durch die gezielte Auswahl an Methoden gesammelt, sei es mithilfe einer Traumreise, Think-Pair-Share oder geeigneter Möglichkeiten zur Auswahl der präsentierenden Lehrkräfte. Ich wollte den Lehrkräften zeigen, dass ich nicht nur diejenige sein werde, die wie aus deren eigenen Schulkarriere geprägten Lehrervorträgen Eigenschaften einer professionellen Lehrkraft vorbetet, sondern die Lehrkräfte zum eigenständigen Arbeiten und Reflektieren animiert. Und das hat besser geklappt als anfänglich erwartet. Es entstand ein bunter Austausch an Ideen und Statements mit vielseitigen Charaktereigenschaften einer professionellen Lehrkraft, bei der jedoch immer ein Punkt auf dem Plakat der Gruppenarbeiten fehlte: Kenntnisse in der Vermittlung des Unterrichtsinhaltes sowie Methoden Know How.
So beschäftigten sich die weiteren Sitzungen, die ich zum Teil sehr zeitaufwändig auf englisch und mit vielen Cliparts und Visualisierungen zum besseren Verständnis untermalte, zum Thema Methodeneinsatz im Unterricht. Von der Wichtigkeit eines gelungenen Starts in den Unterricht und geeigneten Möglichkeiten des Unterrichtseinstieges bis hin zu abschließenden Reflexionsmethoden versuchte ich in den zwei Wochen gewinnbringende Hilfestellungen und Impulse den Lehrkräften an die Hand zu geben. Dabei ergaben sich immer wieder spannende Diskussionen und ich hatte den Eindruck, dass den Lehrkräften dieser Austausch sehr gut tat. Zeit zu haben über Dinge zu sprechen, die während dem Unterrichtsalltag belasten, aber zum Teil viel zu kurz kommen oder als nicht nennenswert abgestempelt werden. Fragen zu Unterrichtsstörungen und den richtigen Umgang zu klären, wobei ich immer wieder Fragen an die Runde abgegeben habe und klar gemacht habe, dass ich kein „Patentrezept“ liefern kann, sondern das eine Frage der Erfahrung und auch des individuellen Klassenklimas sei.
Ich glaube eine neue Erkenntnis war für die Lehrkräfte zum Teil immer wieder, dass man sich stetig in einer Entwicklung befindet und immer wieder, mit jeder Minute Unterricht, dazulernt und sich weiterbildet. Und auch für sich selbst Fehler einzugestehen und zu lernen, dass man sicher nicht immer alles zu 100 Prozent perfekt macht und das aber auch menschlich ist. Ich hoffe sehr, dass ein Teil der Lehrkräfte diesen Erfahrungsschatz auch auf ihre Schüler übertragen und vor allem neue Impulse zur Unterrichtsgestaltung in ihren Unterricht einbauen.
Ich selbst bin sehr dankbar für diese spannende und auch für mich lehrreiche Zeit. Die vielen Gespräche abseits der Methodik und Didaktik, die bereichernden Erkenntnisse über das Schulsystem und die Lehrerausbildung in Ruanda und die unterschätzten Möglichkeiten, die ich als Lehrkraft in Deutschland für selbstverständlich empfunden habe. Es hat mir zugleich gezeigt, wie viel ich alleine während der zwei Jahre Referendariat gelernt habe und stolz auf dieses vielseitige hilfreiche Wissen sein kann, wenngleich der Weg dorthin nicht immer einfach war. Und es hat mich noch einmal weiter bestätigt, den richtigen Beruf eingeschlagen zu haben – mit Menschen zu arbeiten, sie zu begleiten, neue Inhalte spannend zu vermitteln und den gegenseitigen Austausch als gewinnbringend wahrzunehmen.
Liebe Julia,
vielen Dank für Deine wertschätzende Arbeit in Gisenyi.
Du hast das alles sehr gut beschrieben – ohne beschönigende oder herunterziehende Worte.
Möge Euch dieses Sabbatical genauso viel bringen wie es RTC gebracht hat.
Liebe gRüße in den Süden Afrikas!
Martin Vincentz
Freinds of Ruanda e.V. Bad Boll